Kuratiert von Kris Dittel und Aneta Rostkowska
Verwandtschaft wird oft als Blutsverwandtschaft, noch häufiger in Anlehnung an das westliche Modell der Kernfamilie, verstanden. Diese Ausstellung zielt stattdessen darauf ab, verschiedene Implikationen und Formen von Verwandtschaft, Kameradschaft und Zugehörigkeit außerhalb der sozialen Reproduktion von Normen, die die Kernfamilie mit sich bringt, zu betrachten und zu untersuchen.
Als Kurator*innen glauben wir, dass Verwandtschaft nicht gegeben ist, sie muss imaginiert und hergestellt werden. Dieser Prozess der Verwandtschaftsbildung beinhaltet eine kritische Überprüfung von Versprechen und Fantasien der Kernfamilie und eine kollektive Suche nach neuen Möglichkeiten und Strukturen, die erst noch entstehen werden. Der Ausgangspunkt dieses Ausstellungsprojekts erwuchs aus persönlichem Interesse und Erfahrungen, aus der Suche nach vielfältigen Möglichkeiten, Fürsorge- und Liebesbeziehungen aufzubauen und sich andere Arten von Geselligkeit als die Kleinfamilienstruktur vorzustellen.
Die Ausstellung präsentiert verschiedene zeitliche und räumliche Imaginationen, Desorientierungen und Verständnisse von Verwandtschaftsbeziehungen. Diese veranlassen uns, uns die Gegenwart und die Zukunft anders vorzustellen – als eine Welt, in der Solidarität, Interdependenz und andere Formen inniger Verbundenheit und Zugehörigkeit koexistieren, eine Welt, in der wir uns Raum und Zeit nehmen können, um einander in unserer Fülle zu sehen.
Unruly Kinships geht davon aus, dass es kein Idealbild von Verwandtschaft gibt, keine Vorlage, nach der Beziehungen modelliert werden können. Und doch will die Ausstellung dazu anregen, uns die Gegenwart und Zukunft anders vorzustellen: als eine Gesellschaft, in der Solidarität, gegenseitige Abhängigkeit und Freiheit in Liebe und Selbstbestimmung für alle denkbar sind. Es ist ein Sprung ins Unbekannte. Wie wäre es folglich, sich kollektiv andere Formen der Verwandtschaft auszumalen? Die widerspenstigen – solche, die nicht den auferlegten gesellschaftlichen Ordnungen unterworfen sind? Diejenigen, die sich nicht schon bekannten Lebensweisen unterordnen? Sie sind ungehorsam, aufrührerisch, einfallsreich. Wie wäre es, Verwandtschaft neu zu denken und erneut zu fragen: Wie möchten wir leben? Wie möchtest du leben? Dieses Unterfangen betrachtet verschiedene Möglichkeiten der Verwandtschaftsbildung und Pflegebeziehungen in unserer heutigen Gesellschaft. Es präsentiert verschiedene Arten, wie wir miteinander in Beziehung treten, und die unerforschten Möglichkeiten dieser Beziehungen, angefangen bei alltäglichen Interaktionen bis hin zu künstlerischen Genealogien und queeren Abstammungslinien.
Die an der Ausstellung und ihrem öffentlichen Programm beteiligten Künstlerinnen und Künstler re-imaginieren nicht nur, sondern re-inszenieren auch „widerspenstige Verwandtschaftsverhältnisse“, wenn auch meist nicht im bekannten Format sozial engagierter Kunst. Sie ermutigen uns nicht nur, bestehende Verwandtschaftsbeziehungen neu zu denken, sondern sie erkunden auch andere Wege, sie aufrechtzuerhalten. Zum Beispiel Jay Tans großformatige Skulpturen, die einem Ameisen-Formicarium ähneln und eine Reihe von Szenen beherbergen, die verschiedenen Künstler*innen, Musiker*innen und Schriftsteller*innen gewidmet sind, mit denen Tan einen Nachnamen teilt. Die Arbeit bezieht sich auf Formen des Altruismus, Fragen der Vetternwirtschaft, Wahlverwandtschaft und Eusozialität in sozialen Superorganismen wie Ameisen und Menschen. In ähnlicher Weise greift Geo Wyex in seiner poetischen Klangarbeit auf künstlerische Linien, Familienmitglieder und Erinnerungsobjekte zurück. Diese „Shout Outs“ sind persönliche Anerkennungen und öffentliche Gruß- und Lobesbekundungen. In dieser Arbeit fragt Wyex, wer oder was zählt, und wie das laute Rufen zu einer vorübergehenden Maßnahme der Befreiung werden kann. Rory Pilgrim zeigt uns Allianzen und Verbindungen zwischen Klimaaktivisten. Sie weisen darauf hin, dass der Klimawandel uns dazu zwingt, die bestehenden Lebensweisen zu überdenken, nicht nur, weil die alten den Planeten schädigen (denken Sie nur an Einfamilienhäuser, die im Vergleich zu größeren Wohngemeinschaften viel mehr Energie verbrauchen), sondern auch, weil der Kampf gegen klimaschädliche Politik intensive kollektive Anstrengungen erfordert. Die sich entfaltende Miniaturlandschaft von Clementine Edwards aus Reis, Gold, Silber, Kupfer und gefundenen Materialien regt uns dazu an, über das Versprechen der Kernfamilie nachzudenken, ihre Entstehung und Entfaltung, und sich mit ihren Möglichkeiten und Fallstricken zu arrangieren. Selma Selman überlegt, welche Werte und Beziehungen, die die Gesellschaft den Menschen, der Arbeit und materiellen Objekten zuschreibt, während sie mit Hilfe ihrer Familie Altmetall recycelt. Während der gesamten Ausstellungsdauer verwandelt sie Elektroschrott in goldene Ohrringe für ihre Mutter. Die fragilen Papierskulpturen von Lena Anouk Phillip bedienen sich der Mechanismen von Geschenkökonomie, um freundschaftliche Verbindungen zu stärken. Krõõt Juurak und Alex Bailey erlauben ihrem Sohn Albert nicht nur, ihre Aufführung zu stören und zu ihr beizutragen, sondern er übernimmt die gleiche Rolle bei ihrer Entstehung. Die Arbeit spricht Fragen der Kind-Eltern-Beziehung, der Elternschaft und der emotionalen Arbeit an. Die Arbeit von Liz Rosenfeld weist Löcher, Öffnungen, Portale, Mündungen und Poren auf, die unmöglich zu füllen sind. Ihre Arbeit erforscht begehrende und lecke Körper durch das Narrativ des Cruising. Pauline Curnier Jardin gründete The Feelgood Cooperative zusammen mit der Fotografin und Sexarbeiterin Alexandra Lopez und der Architektin und Akademikerin Serena Olcuire. Die Gruppe stiftet einen Ort und einen Zusammenhang für Ausdruck, Inspiration und finanzielle Unterstützung für Sexarbeiterinnen in Rom, deren Arbeit mit der Zerbrechlichkeit des täglichen Lebens verbunden ist. iSaAc Espinoza Hidrobo und Joanna Stange führen zusammen mit dem Kollektiv maiskind ein choreografiertes Ritual der Fürsorge und Verwandtschaft auf. Sie laden das Publikum ein, an ihrem Tanz, ihrer Freude und ihrem Moment der kollektiven Transformation teilzunehmen. Liquid Dependencies (DE) ist ein von Liquid Dependencies Theory (YIN Aiwen, Yiren ZHAO und Zoe ZHAO) und Elli Kuruş gemeinsam entwickeltes Multiplayer-Rollenspiel, das sowohl eine Lebenssimulation als auch ein generatives soziales Experiment ist, das Peer-to-Peer-Beziehungen als Grundstein für eine gemeinschaftsorientierte, fürsorgliche Gesellschaft betrachtet.
Die Ausstellung wird von einem reichhaltigen Publikumsprogramm begleitet. Dieses wird beispielsweise eine Reihe von Zusammenkünften beinhalten, die Vorträge, Aufführungen, Lesungen, Musik und Essen in einer informellen Atmosphäre kombinieren. Dadurch möchten wir den Raum der Kunstinstitution als einen Raum konzipieren, in dem sich das Nachdenken über Verwandtschaft auf kollektive Weise entwickelt, einen Raum, in dem auch Verwandtschaftsbeziehungen gepflegt werden.
In dem Ausstellungsflyer gibt ein unendlicher Liebesbrief von Kris Dittel einen persönlichen Bericht über die Studienkreisreihe Forms of Kinship. Es folgt „Mayday“ von Suzanna Slack, eine fragmentarische Abhandlung, die die Konstruktion und Gewalt der Kernfamilie, von Geschlecht und Klasse berührt. Alexis Pauline Gumbs' Schwarze queerfeministische Genealogie stellt das Konzept der revolutionären Mutterschaft (in Verbform) in Gegensatz zu Mutterschaft als einem Status vor, der selektiv gewährt wird. Nur, wenn mehr von uns „widerspenstigen Verwandtschaften“ nachgehen, kann ein größerer gesellschaftlicher Wandel stattfinden. Dies würde jedoch erfordern, dass die Regierungen die Notwendigkeit erkennen und unterschiedliche Lebensweisen auf struktureller Ebene unterstützen. Wir hoffen, dass der Text von Johanna Brenner einen Hinweis darauf gibt, in welche Richtung dies erfolgen könnte. Eine deutsche Übersetzung des Textes finden Sie hier. Den Flyer zur Ausstellung finden Sie hier.
Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Ausstellung spielte die Veranstaltungsreihe Forms of Kinship, die das ganze Jahr 2022 hindurch stattfand und als offene Forschungsplattform die öffentliche Forschungsphase des Projekts darstellte. Zu den Gästen gehörten die Schriftstellerin und Forscherin Dr. Sophie Lewis, die über das Thema der Abschaffung von Familien und ihre dekoloniale Perspektive sprach und Professorin Mi You (documenta Institut und Universität Kassel), mit der wir gemeinsam ein Seminar zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Familie entwickelt haben. Clementine Edwards teilte ihre Forschungen zur materiellen Verwandtschaft. Joannie Baumgärtner sprach über das Verhältnis der Kernfamilie zum Kapital. Kurator und LGBTQ+-Aktivist Georgy Mamedov führte uns in das radikale Potenzial von Träumen ein. Die Kuratorin Khanyisile Mbongwa sprach mit der Heilerin und Forscherin Li'Tsoanelo Zwane über Ahnengeister und indigenes Wissen, die Künstlerin und politische Schriftstellerin Bini Adamczak entfaltete für uns die Theorie der polysexuellen Ökonomie, die künstlerischen Forscher und Koordinatoren für soziale Verantwortung Francisco Trento sprachen über neuroqueere Intimität und Kurator*innen Karina Kottová und Barbora Ciprová teilten ihre Forschung zu den (feministischen) Widersprüchen der Elternschaft. Viele Veranstaltungen aus dieser Reihe wurden aufgenommen und sind auf dem YouTube Kanal der Temporary Gallery verfügbar.
Das Projekt ist Teil eines größeren Unterfangens namens „Islands of Kinship: A Collective Manual for Sustainable and Inclusive Art Institutions“, bei dem die Temporary Gallery mit sechs internationalen Partnerinstitutionen zusammenarbeitet: Jindrich Chalupecky Society (Prag), Latvian Center for Contemporary Art (Riga), Frame Contemporary Art Finland (Helsinki), Julius Koller Society (Bratislava), Faculty of things that can't be learned (Skopje) und Stroom den Haag (Den Haag). Islands of Kinship wird vom EU-Programm Creative Europe kofinanziert.
Die vollständige Version des kuratorischen Textes ist hier.
Bild
I am what I draw
and I draw what I dream
I dream before I think
I think and i fear
Blue fingers bend in pain
they stick on reddish lines
I fear I am because I draw
soft shapes between us
Robert Gabris, 100x70cm, pencil on cardboard, Vienna 2022
alle anderen: Unruly Kinships, Installationsansichten
Fotos: Simon Vogel, Köln
Förderung und Unterstützung
Mondriaan Fund
Stiftung Kunstfonds und NEUSTART KULTUR
Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen
Kunststiftung NRW
Creative Europe
DANCE ON TOUR Austria
Mit freundlicher Unterstützung des Königreichs der Niederlande
Kulturamt der Stadt Köln
Deltax contemporary
Hotel Chelsea
Das Projekt ist Teil eines größeren Unterfangens namens „Islands of Kinship: A Collective Manual for Sustainable and Inclusive Art Institutions“, bei dem die Temporary Gallery mit sechs internationalen Partnerinstitutionen zusammenarbeitet: Jindrich Chalupecky Society (Prag), Latvian Center for Contemporary Art (Riga), Frame Contemporary Art Finland (Helsinki), Julius Koller Society (Bratislava), Faculty of things that can't be learned (Skopje) und Stroom den Haag (Den Haag). Islands of Kinship wird vom EU-Programm Creative Europe kofinanziert.